Die kostbaren Augen

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In einem fernen Land lebte einst ein mächtiger, grausamer König, den alle fürchteten. Eine seltsame Gabe, gepaart mit einer großen Leidenschaft nannte er sein Eigen. Er vermochte die Augen eines lebendigen Wesens in Stein zu verwandeln. Dies war die Gabe. Die Leidenschaft bestand darin, daß der König edle Steine über alles liebte und begehrte.
Aber seine Fähigkeit, Augen in Edelsteine zu verzaubern, war beschränkt und mehr oder weniger an die Eigenschaften der Augen seiner Opfer gebunden so gelang es ihm zwar, die Umwandlung selbst herbeizuführen, aber die Farbe, die Reinheit und den Glanz konnte er nur unbedeutend beeinflussen. Aus grauen oder blauen Augen vermochte er keine feurigen Rubine zu zaubern. Die Steine veränderten unter Umständen den Ton, nicht jedoch die Grundfarbe.
Geriet einer seiner Untertanen in Not und konnte die Steuern nicht bezahlen, so nahm ihm der Herrscher, je nach Höhe der Schulden, eines oder beide Augen dafür und zauberte daraus Edelsteine. Manchmal kamen schwer verschuldete Eltern mit ihren kleinen Kindern zu ihm, deren Augen unschuldig und rein und deshalb von größerem Wert waren. Diese Kinderaugen ergaben die reinsten Kristalle mit einem ruhigen, klaren Glanz. Am schlechtesten zahlte der Herrscher für das Augenlicht alter Menschen, das im Laufe der Zeit an Klarheit und Schärfe verloren hatte. Durch jahrelange Arbeit ermüdet, durch Sorgen und Kummer getrübt, durch Tränen geschwächt, taugten solche Augen wenig.
Die meiste Zeit verbrachte der König in seiner Schatzkammer mit den vergitterten kleinen Fensterchen, in der viele eisenbeschlagene Truhen standen, randvoll gefüllt mit edlen Steinen. Da gab es strahlende Aquamarine, helle und dunkle Saphire, grüne Smaragde und Turmaline, rotbraune Granate und braune Karneole. Tag für Tag saß der König in diesem Raum, zählte seine Schätze, ließ die Pracht durch seine gierigen Finger gleiten, erfreute sich am Feuer und dem Glanz, an der Leuchtkraft und Farbe seiner Sammlung.
Von Jahr zu Jahr wuchs die Anzahl der Truhen. Aber je mehr Schätze er anhäufte, umso einsamer wurde er. Der Anblick seiner Untertanen war ihm unangenehm, er konnte die Armut der Blinden und ihre leeren Augenhöhlen nicht mehr ertragen und zog sich zurück.
Jahre gingen vorüber, der Herrscher sehnte sich nach einer Lebensgefährtin, nach einer Familie, nach Kindern. Er beschloß zu heiraten und sandte seine Boten an die benachbarten Königshöfe, um die schönste Prinzessin zu finden.
Der schlechte Ruf des Königs war jedoch schneller als seine Boten und keine der edlen Damen war bereit, ihn zum Gemahl zu nehmen. Alle flohen entsetzt, sobald sie nur seinen Namen hörten.
Da der König auf diese Weise keine Frau für sich gewinnen konnte, versuchte er sein Glück beim einfachen Volk. Kaum hatten die Eltern heiratsfähiger Mädchen davon erfahren, als sie auch schon ihre Töchter versteckten oder außer Landes schickten. Trotz seines Reichtums, trotz seiner Jugend und seiner edlen Gestalt mieden alle den König.
Eines Tages veranstaltete der Herrscher eine Jagd, um sich zu zerstreuen. Den ganzen Tag ritt er mit seinen Getreuen umher und schoß das Wild, das ihm vor den Gewehrlauf kam. Schon neigte sich der Tag dem Ende zu, da erblickte er eine weiße Hirschkuh, die auf einer Lichtung weidete. Sein Ross spürte die Sporen und setze dem seltenen Tier nach. Über Berg und Tal ging die Verfolgungsjagd, dann verschwand die Hirschkuh im Dickicht und der König stand alleine da. Immer schwächer war das Jagdhorn zu vernehmen und verstummte bald ganz.
Die Gegend war fremd und finster, große Steinbrocken lagen herum und die Bäume waren so hoch, daß man die Spitzen kaum noch erkennen konnte.
Plötzlich trat aus dem Gebüsch ein junges Mädchen auf ihn zu. "Was sucht Ihr hier, Herr?", fragte es freundlich und ordnete die Blumen in seiner Hand.
"Ich habe mich verirrt, weise mir den weg bis zum nächsten Dorf!"
"Seltsam", sagte das Mädchen und hob den Kopf. Ein Paar wunderbar klarer blauer Augen blickte den König frei und offen an.
"Ihr seid der Erste, der so weit vorgedrungen ist. Wir sind hier sonst immer allein."
"Welch herrliche Augen!", rief der König begeistert aus, "ein so tiefes Blau, ein so starkes Leuchten habe ich noch nie gesehen! Sie strahlen wie die Sterne! Wer bist du, schönes Kind?"
"Ich bin Marie, des Köhlers Tochter."
"Was für kostbare Augen!", rief der König wieder aus.
"Ich verstehe nicht, was Ihr meint, Herr. Wenn Ihr aber vor Einbruch der Dunkelheit den Weg finden wollt, so beeilt Euch. Reitet hier durch das Dickicht, dann kommt Ihr bald an eine Kreuzung, und der rechte Pfad führt zur Stadt. Lebt wohl, Herr."
"Warte, Marie! Sieh mich noch einmal an."
Große, blaue Sternenaugen blickten zu ihm hoch, Marie errötete leicht und lief davon.
"Was für herrliche Augen!", wiederholte der König,"welch reine Farbe, was für ein Funkeln, was für ein Glanz! Das gibt Saphire der besten Sorte!"
Einen Monat später heiratete der König die schöne Köhlertochter und nahm sie mit auf sein Schloß. Als Hochzeitsgeschenk überreichte er ihr eine Kassette mit selten kostbarem Schmuck. Marie war begeistert und betrachtete die vielen Ringe, Ketten, Armbänder, Ohrgehänge mit Freude und Bewunderung. An der Hochzeitstafel trug sie ein Kollier aus geschliffenen Saphiren, die so blau waren wie ihre Augen.
Währen der Mahlzeit beschlich sie ein banges Gefühl. Die Kette lastete schwer auf ihrem Hals. Wiederholt strich Marie mit der Hand darüber und jedes Mal waren ihre Finger feucht.
"Was ist denn das?", fragte sie sich, "warum ist dieses Schmuckstück so naß?"
Sie nahm das Kleinod ab und hielt es gegen das Licht. Da sah sie verwundert, daß Tropfen davon herabfielen, warm und klar wie Tränen.
"Sieh doch, mein Gemahl, diese Kette weint. Wie können so herrliche Steine weinen? Sie sind doch zur Freude der Menschen geschaffen worden." "Unsinn!", rief der König ungehalten, "wirf sie weg und nimm dir eine andere!"
Marie gehorchte, aber welches Stück sie auch heraussuchte, jedes weinte, von jedem Stein tropften heiße Tränen. Nachdenklich und traurig packte sie die ganzen Geschenke zusammen und verschloß die Kassette.
Ein Jahr ging vorüber und Marie gebar zwei kräftige, gesunde Knaben. Alles an ihnen war vollkommen: die wohlgeformten Glieder, die edlen Gesichtszüge, das helle lockige Haar und die Augen, die glänzend und leuchtend waren und so rein in der Farbe, daß der König ganz entzückt war. Die Kinder wuchsen heran und es stellte sich bald heraus, daß ihre herrlichen Augen nichts anderes waren als kostbare Edelsteine. Beide Knaben waren blind und litten große Schmerzen. Jetzt vergoß die arme Königin viele bittere Tränen und Leid zog in das prächtige Schloß ein.
Es verging noch ein Jahr und wieder schenkte die Königin einem Zwillingspaar das Leben. Dieses Mal waren es zwei reizende Mädchen mit saphirblauen Sternenaugen, die so schön waren, daß die Menschen sprachlos stehen blieben, wenn sie sie erblickten. Aber als sich herausstellte, daß auch diese Kinder blind waren, kannte die Verzweiflung der armen Mutter keine Grenzen mehr.
"Ich kann es nicht ertragen!", klagte sie händeringend,"wenn meine Kinder diese Welt nicht sehen können, wenn sie verurteilt sind, in ewiger Finsternis zu leben und niemals eine Blume, einen Baum, den Himmel und die Sonne erblicken, dann will auch ich diese Welt nicht mehr sehen."
"Warte, Marie", sagte da der König, "warte! Ich glaube, es gibt doch noch eine kleine Hoffnung. In meiner Verblendung habe ich schwer gesündigt und dieses Leid heraufbeschworen. Am Tage unserer Hochzeit hast du dich nicht getäuscht, Marie, es waren tatsächlich Tränen auf den Steinen, denn jeder dieser Steine war aus einem menschlichen Auge gemacht. Aus den Augen meiner Untertanen. Jetzt werde ich versuchen, meine Schuld zu sühnen."
Der König ließ seine Schatzkammer öffnen und im ganzen Land ausrufen, daß jeder seine Augen wieder abholen könne.
Das war eine Freudenbotschaft! Die Blinden kamen in Scharen herbei. Sie wurden in die Schatzkammer geführt. Jeder griff dort nach einem Stein, schob ihn in die leere Augenhöhle und wurde sehend. Jubel erscholl im ganzen Land. Die Menschen waren glücklich und segneten den Herrscher.
Als der letzte Edelstein verteilt und die Schatztruhen leer waren, atmete der König erleichtert auf. Er begab sich in die Gemächer seiner Kinder. "Mein Gemahl", rief ihm die Königin entgegen, "ein Wunder ist geschehen! Unsere Kinder können sehen."
Der König näherte sich den Kleinen und diese hoben die Köpfchen. Aus großen Augen blickten sie ihn verwundert an. Jetzt waren es keine funkelnden Steine mehr, sondern die unschuldigen, vertrauensvollen Augen seiner Kinder. Und der grausame König verstand, daß dies viel wertvoller war als alle Schätze auf der Welt.
Hinfort regierte er weise und gütig sein Land. Er sammelte keine Reichtümer mehr, dafür aber sorgte er vorbildlich für seine Untertanen und seine Familie.




 


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