Edelsteingarten

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Von jeder menschlichen Behausung weit entfernt lebte einst zurückgezogen eine Frau. Sie war alt und einsam. Seit vielen Jahren hatte sie keine menschliche Stimme gehört, außer ihrer eigenen. In ihrem ganzen Leben hatte sie kein Kinderlachen vernommen, keine Tränen gesehen. Niemals hatte sie Mitleid mit irgendeinem Geschöpf empfunden und sich niemals über irgendetwas von Herzen gefreut.
Die alte Frau bewohnte ein kleines Haus mit winzigen, trüben Fensterchen und nicht einmal die Frau Sonne konnte hineinblicken. Hinter dem Häuschen befand sich ein von einem hohen Zaun umgrenzter Garten. Ihre ganze Zeit verbrachte die Frau hier, der Garten war ihr Lebensinhalt und ihre Leidenschaft.
In der Tat, es war ein schöner Garten voller bunter, leuchtender Blumen, die nie verwelkten und sogar im tiefen Winter, unter einer dicken Schicht Schnee, genauso schön waren wie im Sommer. Es war ein Paradies, das an Schönheit nicht seinesgleichen hatte.
Und doch fehlte hier etwas, aber die Frau wusste nichts davon, sie kannte es nicht anders. Alle Blumen waren aus reinen, kostbaren Edelsteinen. Jede einzelne Blüte war ein Kleinod. Da standen helle und dunkle Veilchen mit zarten Blüten aus Amethyst, daneben leuchtende Tulpen aus Bernstein und Koralle. Und herrlichste Rosen waren aus edelsten Rubinen gefertigt. Blaue Saphirglöckchen und zerbrechliche Maiglöckchen aus Mondsteinschaukelten lieblich im Wind.
Die alte Frau ging den ganzen Tag in diesem kleinen Reich umher, polierte die unschätzbaren Blüten und freute sich über ihre Pracht.
Nach dem Regen sah der Garten besonders schön aus. Da brach sich das Licht der Sonne vielfach in den gereinigten Steinen und zauberte sprühende Funke hervor. Dann stand die stolze Besitzerin ganz gebannt da und konnte sich nicht satt sehen an ihrem Reichtum.
Eines Abends klopfte unerwartet ein müder Wanderer an die Tür. Die Frau öffnete, vor ihr stand ein Jüngling in einfacher Kleidung.
"Gute Frau, ich bin vom Weg abgekommen. Würden Sie mir ein Nachtlager gewähren und ein Stück Brot?"
"Komm herein und sei mein Gast. Seit vielen Jahren hat mich in meiner Einsamkeit niemand mehr besucht."
Der junge Mann übernachtete bei ihr und wollte am nächsten Morgen früh aufbrechen.
"Wohin eilst du denn?", fragte die Gastgeberin.
"Ich bin auf der Suche nach Arbeit."
"Eine Arbeit kannst du auch bei mir bekommen, ich habe einen großen Garten und brauche schon lange einen Helfer. Ich bin alt geworden und schwach, die viele Arbeit ermüdet mich schnell."
"Das trifft sich gut", meinte der Bursche, "ich bin Gärtner von Beruf und liebe Pflanzen."
"Bei mir sind es ganz besonders schöne und kostbare Blumen."
"Dann freut mich die Arbeit doppelt!"
Der junge Mann blieb und wurde in den Garten geführt. Wie groß aber war seine Enttäuschung, als er statt Blumen nur Steine sah.
"Was ist denn das? Sind das die Blumen? Wo ist der liebliche Duft? Wo sind die summenden Bienen, die Begleiterinnen aller Blüten? Wo sind die zwitschernden Vögel? Hier ist ja alles tot und stumm. Dies ist kein Garten, das ist ein Blumenfriedhof ohne Leben, ohne Duft und Freude!"
"Das ist der kostbarste Garten der Welt! Es gibt keinen zweiten, der diesem gleicht! Jede Blume hier ist ein Vermögen wert, jede Blüte ist ein Kunstwerk! Du verstehst nur nichts davon! Betrachte diese prächtige Pfingstrose. Sie ist aus dem kostbaren Rubellit, dem roten Turmalin. Ihre Blätter dagegen sind aus Jade gemacht. Ist sie nicht von betörender Schönheit? Und dort, der Löwenzahn! Eine so unscheinbare Blume ist zu einem Juwel geworden. Ihre Blätter sind aus Chrysoprasen gebildet, die Blüte dagegen aus gelbem Saphir. Er wird auch Padparadscha genannt, was im Singhalesischen "die Morgenröte" bedeutet. Bist du nun von der Einmaligkeit dieses Gartens überzeugt?"
"Nein! Das sind keine Blumen, nur leblose Steine. Hier bleibe ich nicht. Für kein Geld der Welt möchte ich in diesem Garten arbeiten."
"Dann verdoppele ich deinen Lohn. Ich brauche dringend Hilfe, denn ich bin eine alte Frau. Dieser Garten ist mein Leben."
"Haben Sie schon einmal richtige Rosen gesehen? Haben Sie einmal an frischen Veilchen gerochen, an taubenetzten Maiglöckchen?", fragte der junge Gärtner.
"Nein! Aber schöner als meine Blumen können sie gar nicht sei. Und wozu soll man an Blüten riechen?"
"Echte Blumen sind tausendmal schöner!", rief der junge Mann begeistert aus.
Die Frau dachte nach und sagte dann:
"Nun gut. Dann geh und bring mir eine solche Blume. Wenn sie so schön ist, wie du sagst, so belohne ich dich und gehe selbst in die Welt, wo diese Blumen wachsen. Ist sie jedoch nicht besser als meine, so wirst du meinen Garten ohne Lohn blank polieren. Bist du damit einverstanden?"
"Ja!", rief der Gärtner wohlgemut und machte sich auf den Weg.
Zwei Tage verstrichen und gegen Abend des dritten kam er wieder. In der Hand hielt er einen großen Strauß Blumen, den er sorgfältig in ein feuchtes Tuch gewickelt hatte. Er öffnete es und überreichte der Frau den duftenden Strauß.
"Das sind echte, lebendige Blumen", sagte er, "diese sind Veilchen, sehen Sie, wie zart die Blüten sind und wie sie duften! Dies hier ist die Königin der Blumen, die Rose. Ihre Blütenblätter sind kühl und samten und ihr Duft ist einzigartig!"
Die Frau nahm das Geschenk, besah die Pflanzen, atmete den lieblichen Wohlgeruch ein. Lange dachte sie nach und sagte schließlich: "Ich glaube fast, du hast Recht. Deine Blumen sind noch schöner als meine und sie riechen so gut. Morgen früh bekommst du deine Belohnung und kannst in Frieden ziehen."
Die Nacht ging vorüber. Mit den ersten Sonnenstrahlen erhob sich der junge Mann und lief zu seiner Gastgeberin. Diese saß missmutig auf einer Bank und blickte auf den verwelkten Strauß zu ihren Füßen. Die gestern noch so schönen duftenden Blüten lagen vertrocknet, bar jeder Schönheit da und ihr süßer Geruch war verflogen.
"Sieh diene hochgepriesenen Blumen an", sagte sie verächtlich, "es war alles Betrug! Deine Pflanzen sind nichts wert! Du hast die Wette verloren!"
"Aber liebe Frau, diese Blumen lebten, sie erfreuten uns und sie starben. So ist es immer in der Natur. Auch die Menschen werden geboren, erblühen und vergehen."
"Geh und putze meinen Garten, du hast mich hintergangen! Meine Blumen sind unsterblich. Sie sind heute genauso schön wie gestern und morgen."
So ging der Bursche in den Garten, wusch und polierte die kostbaren Steine und weinte. Jede Blume aber, die seine Tränen benetzten, wurde lebendig. Mit ihrem Wohlgeruch lockte sie die Bienen herbei und der tote Garten erwachte zum Leben.
Als die Greisin am Abend kam, stand sie in einem duftenden, blühenden Garten und zum ersten Mal seit vielen Jahren freute sie sich von Herzen und dankte ihrem Schöpfer für dieses Wunder.
Und der junge Gärtner? Jetzt hatte er keinen Grund mehr, weiterzuziehen. Er blieb, pflegte den Garten und lebte in Frieden.


"Was für ein seltsamer Gedanke, einen Garten aus Steinen zu gestalten und mit diesen leblosen Blumen zu füllen! Keine meiner Feen würde sich darin wohl fühlen oder gar leben können. Die Steine sind hart, kalt, haben keinen süßen Nektar und keinen belebenden Duft!", rief Muramis Frau aus.
"Aber ein solcher Garten zeugt von der hohen Kunst der Steinschleifer. Es ist Kunst in höchster Vollendung, jede Blume, jedes Blatt, jeden Halm so echt darzustellen, so lebensnah nachzumachen. Kein Mensch auf der Erde, und sei der noch so begabt, wäre dazu fähig."
"Ich bin froh, dass dieser junge Gärtner die Steine in natürliche Pflanzen verwandelt hat. Jetzt lebt der Garten, er atmet, erblüht, duftet und vergeht."
"Aber dafür vernichtete er die hervorragende Arbeit meiner Meister und das stimmt mich traurig", meinte Murami.
"Kannst du dich an noch etwas anderes erinnern? Dann erzähle mir, bitte!"
Murami schmunzelte und begann.



 


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