Schlafende Perle

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Irgendwo inmitten des Stillen Ozeans, der nur aus Versehen so benannt wurde und treffender als Stürmischer Ozean bezeichnet werden sollte, lagen verloren einige kleine Inseln. Von der Zivilisation unberührt, von neugierigen Touristen nicht entdeckt, lebten die Bewohner der Insel friedlich und sorglos. Von allen Seiten umgab sie weites Meer und die ganze Fülle an tropischer Pracht der Flora und Fauna.
Die Inseln regierte ein König, der einen Sohn im heiratsfähigen Alter hatte. Der Vater wünschte, daß sein Junge eine Frau nehmen sollte, und suchte für ihn immer neue, hübsche Mädchen aus. Der Sohn aber wehrte sich und lehnte sie alle ab, da er sich nicht binden wollte.
So war es auch an diesem Tag. Der Vater bot eine neue Heiratskandidatin an, der Sohn wies sie zurück. Es kam zu einem Streit. Am Schluß lief der Junge zum Strand, sprang in sein Boot und ruderte hinaus aufs Meer. Er war verärgert, suchte die Auseinandersetzung mit dem Vater zu vergessen und sich zu beruhigen. Schließlich konnte er seinem Vater nicht erklären, daß seit mehreren Monaten das Bild eines unbekannten Mädchens seine Gedanken beherrschte und ihm die Ruhe raubte, und daß seine Sehnsucht nach diesem unbekannten Wesen von Tag zu Tag mächtiger wurde.
Der junge Mann war so weit gerudert, daß er nur noch Wasser um sich sah. Die Sonne brannte, silbrig gleißend spiegelte die Oberfläche des Meeres, sanft schaukelten die Wellen sein Boot. Der Junge schloß die Augen und begann zu träumen...
Er liebte die Natur, er liebte die grenzenlose Weite des Meeres. Er liebte es in seiner freundliche, behutsamen Art und an stürmischen tagen, wenn die Wellen wie hohe, drohende Wände dem Ufer zustrebten, sich dort mit Getöse brachen und zischend, knurrend zurückwichen... Er liebte nicht minder auch die geheimnisvolle Welt unter Wasser, ihre Formen, ihre Farben und ihren Zauber. Er kannte viele Fischarten, und ihre Vielgestaltigkeit und Buntheit erfreuten ihn immer aufs Neue. Blaue Seesterne und rote Seeigel glichen mehr kostbaren Mineralien als den Lebewesen. Nach oben, dem Lichte und der Wasseroberfläche zu, strebten die Korallen. Es gab sie in Weiß, es gab rosafarbene, die man im Westen als Engelshautkoralle bezeichnet, es gab sie in Schwarz und in sattem Rot. Diese letzte Art nennen die Italiener Morokoralle.
Das Meer beschenkte von alters her die Menschen nicht nur mit Nahrung, sondern auch mit Kostbarkeiten wie Bernstein, Perlmutt, Korallen und wunderschönen, farbigen Perlen.
Der Junge merkte nicht einmal, wie er einschlief. Die Wellen aber trugen sein Boot weiter und immer weiter...
Plötzlich stieß sein Kahn unter Wasser an und er öffnete die Augen. Endlos war die Weite des Meeres um ihn herum. Er sah sich um. Unter seinem Bot war das Wasser nicht tief und kristallklar. Die Strahlen der Sonne drangen bis auf den Grund, der Junge erblickte eine Sandlichtung, umgeben von einem Kranz Morokorallen. Bunte Fische glitten dazwischen hindurch, in der Mitte lagen einige große offene Muscheln und in jeder schlief ein Mädchen. Sie alle waren lieblich anzusehen und da... erblickte er sie! Das war sie, das schöne Geschöpf, von welchem er träumte, nach welchem er sich sehnte. Er sprang über Bord und tauchte in die Tiefe. Die Morokorallen nahmen eine drohende Haltung an, richteten die scharfen Stacheln gegen ihn und zerkratzten seine Haut. Die Muscheln schlossen sich und vergruben sich im Sand. Aber dem Eindringling gelang es trotzdem, die gesuchte Muschel zu ergreifen und in sein Boot zu heben.
Nun lag sie da, fest verschlossen und kalt. Mit Mühe gelang es ihm, sie zu öffnen, aber... das Mädchen war nicht mehr da. Stattdessen lag vor ihm eine große, wunderschöne Perle! Der Junge schloß die Muschel, tauchte nochmals in die Tiefe und legte sie an ihren Platz zurück. Er war sehr enttäuscht.
Nun wußte er, daß das Mädchen, nach dem er suchte, lebte. Es gab die Schöne aus seinen träumen wirklich, aber wie solle er sie erwecken? Wie sie für sich gewinnen? Ab da ruderte er tagtäglich auf Meer hinaus, suchte nach der Stelle, wo er die Muschel gesehen hatte und fand sie nicht. Riesengroß war der Ozean und sein Boot so winzig klein. Die Gesuchte unter Wasser war unauffindbar.
In seiner seelischen Bedrängnis suchte er Rat bei einem Medizinmann. Der alte Weise hörte ihn an und antwortete: "Warum fragst du deine Großmutter nicht?" Mehr war nicht aus ihm herauszukriegen. Der Jüngling begab sich zu seiner Großmutter.
Diese war weder überrascht noch erstaunt, als sie seine Geschichte hörte, und sie sagte gelassen: "Du bist nicht der Erste, der eine Meeresperle heiraten möchte. Einer deiner Vorfahren holte sich ein Mädchen aus der Tiefe des Meeres. Wenn ich mich recht entsinne, so tat er das folgendermaßen: Er flocht einen Korb, füllte ihn mit duftenden Blüten und ruderte aufs Meer hinaus. Dort hob er die Muschel und versenkte sie in den Korb mit den Blüten. Versuche auch du, es so zu machen, bring sie her und warte dann, was geschieht." "Aber wie erwecke ich sie zum Leben, Großmutter?" "Sei nicht so ungeduldig, mein Junge, tu einfach alles, wie ich dir gesagt habe und warte ab. Und jetzt geh!"
Der Junge umarmte die weise Frau und eilte davon. Am nächsten Tag ruderte er hinaus. In seinem Boot stand ein großer Korb voller duftender Blütenblätter.
Als er weit genug vom Ufer entfernt war, holte er die Ruder ein und überließ das Boot seinem Schicksal. Dieses schaukelte sanft dahin, unmerklich, langsam - dann blieb es stehen. Der Junge wartete, aber das Boot bewegte sich nicht weiter. Er blickte über Bord: unter ihm war klares Wasser, eine Sandlichtung, umgeben von Morokorallen, und in der Mitte lagen mehrere Muscheln. Der junge Mann zögerte und blickte hinunter... das Mädchen in einer der Muscheln öffnete kurz die Augen und lächelte ihm zu... er sprang in die Tiefe.
Behutsam holte er die kostbare Last in sein Boot und legte sie in den Korb mit den Blüten. Dann ruderte er zurück.
Als er gegen Abend die Insel erreichte, verbarg er den Korb im Garten im Schatten dichter Bäume und blieb in der nähe. Die Blüten welkten nicht, sie verströmten ihren lieblichen Duft nach wie vor. Der Junge wachte und wartete. So verstrichen einige Tage. Eines Abends jedoch, ermüdet vom vielen Wachen, schlief er fest ein. In dieser Nacht sah und hörte er nichts.
Ein strahlender Morgen, voller Licht und Blumenduft, brach an. Laut sangen die Vögel im Garten. Der Junge öffnete die Augen und sah sich um. Neben ihm saß eine so entzückende Jungfrau, daß ihm der Atem stockte. Zart war sie, lieblich und sanft. Sie war es, das Mädchen aus seinem Traum, seine erlöste Meeresperle. Der junge Mann sprang auf und nahm die Geliebte in die arme. Bei seiner Berührung verwandelte sie sich nicht in eine Perle, sie wies ihn nicht ab, sondern wandte sich ihm vertrauensvoll zu.
Als er wenig später seine Braut dem Vater vorstellte und dieser das Mädchen ansah, war er sogleich mit der Wahl seines Sohnes einverstanden.
Etwas Seltsames geschah bei der Hochzeitsfeier. Aus dem Nichts tauchten einige Mädchen auf, von der gleichen zarten Statur und fast so schön wie die Braut. Sie gingen zum Brautpaar, sprachen ihre Glückwünsche aus und legten Perlen vor ihren Füßen nieder. Wunderschöne, kostbare Perlen in Weiß, Rosa, Hellgrün und Creme. "Das sind meine Schwestern. Sie nehmen Abschied von mir", erklärte die Braut. Die Gratulantinnen entfernten sich, tauchten ins Meer und verschwanden so plötzlich wie sie gekommen waren.


"Was für eine wunderschöne Geschichte, und ein so glückliches Ende!", rief die Feenkönigin aus. "Was aber sind Perlen? Ich habe nie davon gehört. Wachsen sie so wie die Kristalle in deinem Reich?"
"Nein, Perlen entstehen im Wasser, in einer Muschel, im Fluß oder Meer."
"Aber sie werden in deiner Werkstatt geschliffen und bearbeitet, nicht wahr?"
"Perlen werden nur durchbohrt oder gefaßt, nicht geschliffen. Sie bestehen aus Kalk, sind sehr weich und deshalb empfindlich."
"Kalk ist etwas sehr Einfaches, Gewöhnliches. Perlen sind also wertlos?"
"Nein. Eine Perle ist wunderbar und einzigartig. Sie ist unaufdringlich sanft und besitzt eine Ausstrahlung, die jeden Kenner verzaubert."
"Obwohl sie aus Kalk besteht?"
"Ja! Ich werde dir Perlen zeigen, und ich bin sicher, sie werden dich entzücken. Es gibt Perlen in vielen Farben und Formen: aus Japan kommen hellgrüne Perlen, aus Ceylon zartgelbe, aus Indien solche von hellrosa Farbe. Auch eine schwarze oder graue Perle kann zu vollkommener Schönheit erblühen."
"Ich glaube, sie würden mir auch gefallen. Aber bevor du sie mir zeigst, möchte ich eine weitere Geschichte hören."







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